25.09.2013 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Die wirtschaftliche Ungleichheit ist in Deutschland heute deutlich größer als Anfang der 1990er Jahre oder zur Jahrtausendwende. So wuchs die Ungleichheit bei der Verteilung der bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen zwischen 1991 und 2010 um knapp 13 Prozent. Gründe dafür sind vor allem der langjährige Anstieg der atypischen Beschäftigung und höhere Kapitaleinkommen, die überwiegend Wohlhabenden zuflossen. Gleichzeitig sank die Ausgleichswirkung des Steuersystems, weil Steuersenkungen vor allem höhere Einkommen und Vermögen entlasteten (siehe auch die Grafik; Link unten). Hinzu kommt, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer Haushalte mit geringerem Einkommen überproportional betraf. Die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt der jüngsten Zeit hat den Trend zu wachsender Ungleichheit aufgehalten, aber nicht umgekehrt. Das ergibt eine neue Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.
"Unsere Auswertung zeigt zweierlei", sagt Prof. Dr. Gustav A. Horn, der Wissenschaftliche Direktor des IMK. "Beschäftigungsaufbau und stärkere Lohnsteigerungen, wie wir sie in den letzten Jahren gesehen haben, wirken sich positiv auf die Einkommensverteilung aus. Aber das reicht nicht. Es ist noch eine Menge zu tun, um den langjährigen Negativtrend zu korrigieren. Das wird nicht ohne mehr Ausgleich im Steuersystem und bessere Regeln auf dem Arbeitsmarkt gehen, um beispielsweise den Niedriglohnsektor einzudämmen. Solche Reformen nützen nicht nur den davon direkt betroffenen Arbeitnehmern. Die gegenwärtige Stabilität der deutschen Wirtschaft, der relativ kräftige private Konsum und die solide Einnahmesituation der Sozialkassen wären kaum denkbar, wenn die Ungleichheit weiter anstiege."
Als Basis für ihre Studie nutzen die IMK-Forscher Ulrike Stein, PhD, und Dr. Kai Daniel Schmid die aktuellsten vorliegenden Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel, einer jährlichen Befragung von zuletzt 12.000 Haushalten. Die Wissenschaftler haben die Entwicklung der relevanten gesamtwirtschaftlichen Indikatoren für die Einkommensverteilung über einen Zeitraum von knapp 20 Jahren untersucht. Diese Maßstäbe zeigten übereinstimmende Tendenzen.
Gemessen am so genannten Gini-Koeffizienten, dem bekanntesten der Indikatoren, vergrößerte sich die Ungleichheit der bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen in Deutschland von 1991 bis 2010 um 12,7 Prozent, haben Schmid und Stein berechnet. Der Gini-Koeffizient kann Werte zwischen Null und Eins annehmen, wobei Null für eine vollständig egalitäre Verteilung steht und Eins für maximale Ungleichheit. Allein von der Jahrtausendwende bis 2005 stieg der Gini-Koeffizient um 13,4 Prozent auf 0,29. Nach Untersuchungen der Industrieländer-Organisation OECD wuchs die Ungleichheit in Deutschland in der ersten Hälfte der 2000er Jahre erheblich stärker als in den meisten anderen Mitgliedsländern. Gehörte die Bundesrepublik zuvor zu den Ländern mit einer relativ ausgeglichenen Verteilung, rutschte sie ins OECD-Mittelfeld. Nach 2005 sank der Gini-Wert nur leicht, um 2 Prozent, so die IMK-Berechnungen.
"Eine zunehmende Ungleichheit der Einkommen kann bedeuten, dass die Bezieher niedriger Einkommen sich stark verschulden und spätestens im Alter staatliche Unterstützung brauchen", warnen Schmid und Stein. Auf längere Sicht sei eine Stabilisierung der Einkommensverteilung nicht nur eine soziale, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Die Wissenschaftler haben sich daher auf die Suche nach den Gründen für die steigende Ungleichheit begeben. Zur Veränderung der Einkommensverteilung vor Steuern und öffentlichen Transfers, die sogenannte Verteilung der Markteinkommen, trugen insbesondere die folgenden Faktoren bei:
Steigende Kapitaleinkommen
Der Anteil der Kapitaleinkünfte am Gesamteinkommen stieg in Deutschland von 29,2 Prozent im Jahr 1991 auf 33,8 Prozent 2010. Vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2007 betrug er sogar 36,8 Prozent. Da Kapitaleinkommen vor allem an Personen mit höheren Erwerbseinkommen fließen, wird auch deshalb die Verteilung der Markteinkommen insgesamt ungleicher.
Zunehmende atypische Beschäftigung
Bis 2006 hat die Zahl der Beschäftigten in befristeten Jobs, Teilzeit oder Minijobs stetig zugenommen. Das hatte auch Auswirkungen auf die Ungleichheit, zeigen die Forscher: Sie stieg parallel erst kräftig an, dann verlangsamte sich das Wachstum. Während der guten wirtschaftlichen Entwicklung in letzter Zeit stieg die Zahl der so genannten Normalarbeitsverhältnisse im gleichen Ausmaß wie die der atypischen Jobs. Das ist ein Grund, weshalb sich die Einkommen nicht noch weiter auseinander entwickelten.
Zusätzlich, so das IMK, trugen auch der Trend zu kleineren Haushalten und Änderungen in der Qualifikationsstruktur der Arbeitnehmer zur Zunahme der Ungleichheit bei. Allerdings in deutlich geringerem Umfang als die bereits genannten Faktoren.
Parallel zur wachsenden Ungleichheit bei den Markteinkommen sank der ausgleichende Effekt durch staatliche Umverteilung, zeigt die IMK-Analyse. Im Zeitverlauf machen die Wissenschaftler drei Phasen aus:
Schmid und Stein machen eine Vielzahl an Faktoren für die abnehmende Effektivität der Umverteilung verantwortlich: So sank der Spitzensteuersatz zwischen 1991 und 2010 um elf Prozentpunkte, der niedrigste Einkommensteuersatz lediglich um fünf Punkte. Die Vermögensteuer wurde 1997 abgeschafft, die steuerliche Belastung von Kapitalgewinnen ging ebenfalls zurück. Hinzu kam: Die Arbeitsmarktreformen in den 2000er-Jahren ließen mehr atypische Jobs entstehen - und reduzierten die staatlichen Leistungen für Arbeitslose massiv.
Zusätzlich geschwächt wurde die staatliche Ausgleichswirkung durch die Mehrwertsteuererhöhung von 2007, betont Expertin Stein: "Da ärmere Haushalte den größten Teil ihres Einkommens konsumieren und wenig sparen können, sind sie weitaus stärker betroffen als wohlhabendere, wenn Verbrauchssteuern angehoben werden. Die Mehrwertsteuer-Erhöhung hat daher die Ungleichheit erhöht." Wie groß dieser Effekt gewesen ist, sei aber mit den vorliegenden Daten zu den Nettoeinkommen nicht zu beziffern.
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