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Ungleichheit der Einkommen: Trendwende steht immer noch aus

19.11.2013  — Online-Redaktion Verlag Dashöfer.  Quelle: Hans Böckler Stiftung.

Die Einkommen in Deutschland sind heute deutlich ungleicher verteilt als vor zehn oder 20 Jahren.

Besonders stark hat sich die Schere zwischen 2000 und 2005 geöffnet. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass die Ungleichheit seitdem wieder etwas abgenommen hat: Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist nach jahrzehntelanger Erosion wieder angestiegen. Und der Gini-Koeffizient, das bekannteste Maß für Einkommensungleichheit, signalisiert für die Jahre zwischen 2005 und 2010 einen geringfügigen Rückgang der Unterschiede. Eine echte Trendwende ist aber noch nicht erreicht. Möglicherweise stellt der Gini-Koeffizient methodenbedingt die Entwicklung sogar positiver dar als sie wirklich ist. Zu diesem Ergebnis kommt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.

Für die Studie haben Prof. Dr. Brigitte Unger, Dr. Reinhard Bispinck, Dr. Toralf Pusch, Dr. Eric Seils und Dr. Dorothee Spannagel vom WSI zahlreiche nationale und internationale Statistiken ausgewertet und verschiedene Indikatoren berechnet. "Die Datenlage ist teilweise unübersichtlich. Unter dem Strich sehen wir aber gewichtige Indizien dafür, dass noch eine Menge zu tun ist, um eine echte Entspannung der Verteilungsentwicklung zu erreichen. Einige positive Tendenzen in letzter Zeit ergeben noch keinen stabilen Trend. Und die ärmeren Menschen in diesem Land haben davon bislang überdies kaum profitiert", fasst Brigitte Unger, die Wissenschaftliche Direktorin des WSI, zusammen.

So hat der Abstand zwischen hohen und niedrigen Löhnen nach Beobachtung der Wissenschaftler seit 2008 erneut zugenommen. Die Armutsquote ist im gleichen Zeitraum mit einer Ausnahme im Jahr 2010 kontinuierlich gestiegen. Und lediglich das wohlhabendste Viertel der deutschen Haushalte weist langfristig eine stabile Sparquote auf. Vor allem die ärmere Hälfte der Bevölkerung kann offensichtlich deutlich weniger zurücklegen als Anfang der 1990er Jahre. Dadurch sinkt der ohnehin nur marginale Anteil der Ärmeren an den Vermögenseinkommen. "Auch eine private Altersvorsorge ist so kaum möglich", warnen die WSI-Experten.

Kernergebnisse im Einzelnen:

Lohnquote: Leichter Anstieg nach langem Rückgang

In fast allen Industrieländern sind die Lohnquoten seit den 1980er Jahren gefallen. Der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen ging also zurück, während das Gewicht der Kapital- und Gewinneinkommen zunahm, die vor allem einem relativ kleinen Personenkreis zufließen. In Deutschland sank die bereinigte Bruttolohnquote zwischen Mitte der 1980er Jahre und 2007 von rund 78 auf etwa 63 Prozent. In der globalen Wirtschaftskrise und danach stieg sie wieder an - bis 2012 auf 68,4 Prozent. Allerdings haben die Wissenschaftler Zweifel, dass der Trend von Dauer ist. Denn er beruht nicht nur darauf, dass seit der erfolgreichen Krisenüberwindung in Deutschland die Löhne im Durchschnitt wieder stärker steigen. Auch die Renditeschwäche vieler Kapitalanlagen prägt derzeit die Statistik.

Schwäche der 2000er Jahre noch nicht aufgeholt

Zudem sei die geringe durchschnittliche Lohnentwicklung in den 2000er Jahren noch nicht wieder wettgemacht, betonen die Forscher. Die traf viele Arbeitnehmer, vor allem in Dienstleistungsbranchen und insbesondere die wachsende Gruppe von Beschäftigten, die nicht nach Tarif bezahlt werden. So stiegen branchenübergreifend die durchschnittlichen Tariflöhne zwischen 2000 und 2012 real, also nach Abzug der Inflation, um insgesamt 6,8 Prozent - "jahresdurchschnittlich sind dies bescheidene 0,6 Prozent", schreiben die Forscher. Noch weitaus schwächer entwickelten sich die Bruttoeffektiveinkommen, eine Größe, die unter anderem auch die Löhne der nicht tariflich bezahlten Beschäftigten berücksichtigt: Real lagen sie 2012 noch um knapp zwei Prozent niedriger als zur Jahrtausendwende. Der aktuelle Wiederanstieg der Lohnquote in Deutschland sei daher noch keine "reine Erfolgsstory", betont das WSI. Erst wenn die positive Lohnentwicklung stetig anhalte und sich noch verstärke, könne daraus ein nachhaltiger Trend werden.

Niedrige Lohneinkommen fallen zurück

Gegen die These einer signifikant nachlassenden Ungleichheit spricht nach Analyse des WSI auch die Entwicklung von niedrigen, mittleren und hohen Lohneinkommen. Um diese zu ermitteln, haben die Forscher Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) ausgewertet, einer Wiederholungsbefragung in mehr als 12.000 Haushalten. Da das SOEP trotz dieser großen Datenbasis sehr hohe und sehr niedrige Einkommen nicht besonders genau erfasst, teilen die Wissenschaftler die Haushalte mit Lohneinkommen in vier relativ große Gruppen auf. Die so genannten Quartile umfassen jeweils 25 Prozent der Haushalte, geordnet nach der Einkommenshöhe.

Die WSI-Auswertung zeigt, dass die beiden unteren Quartile nach Abzug der Inflation 2010 etwas geringere Lohneinkommen hatten als 1991. WSI-Experte Toralf Pusch führt das unter anderem darauf zurück, dass insbesondere im zweiten Quartil überdurchschnittlich viele Menschen in schlecht bezahlten Minijobs oder Leiharbeit beschäftigt sind. Im dritten Quartil stieg das Lohneinkommen geringfügig, im obersten legte es dagegen deutlich zu. Dieser langfristige Trend wurde in den Jahren 2005 und 2006 kurz unterbrochen, damals zogen auch die Lohneinkommen der unteren Hälfte etwas an. Schon ab 2008 musste das einkommensschwächste Quartil aber wieder reale Einbußen hinnehmen, im 2. Quartil stagnierten die Einkommen. So ging es bis 2010, dem letzten Jahr, für das derzeit SOEP-Daten vorliegen.

Zu positives Bild nach Gini?

Das passt nicht recht zur geringfügig gleicheren Verteilung, die der Gini-Koeffizient ab 2005 bei den verfügbaren Haushaltseinkommen ausweist. Warum? Die Forscher vermuten, dass eine methodische Schwäche des Gini-Maßes dafür verantwortlich ist: Es registriert Veränderungen im mittleren Einkommensspektrum stärker als in den Randbereichen und unterscheidet überdies nicht zwischen verschiedenen Formen der Ungleichheit. So könnte die zuletzt wieder wachsende Distanz zwischen hohen und niedrigen Lohneinkommen dadurch überlagert worden sein, dass bei wohlhabenden Haushalten die Einkommen aus Vermögensanlagen unter der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise gelitten haben. "Davon haben aber natürlich die Menschen in den unteren Einkommensgruppen nichts", sagt WSI-Direktorin Unger. Ein Gegencheck mit einem anderen Verteilungsmaßstab bestätigt die Zweifel der Forscher: Der Atkinson-Index verfügt über eine Art statistische Lupenfunktion, mit der gezielt die Verteilungsentwicklung am unteren Rand der Einkommensskala betrachtet wird. Er weist für den Zeitraum von 2005 bis 2010 keinen Rückgang der wirtschaftlichen Ungleichheit aus.

Sparquote: nur oben stabil

Auch bei den Vermögenseinkommen, deren Gewicht insgesamt zunimmt, ist die Ungleichheit in den vergangenen zwei Jahrzehnten kräftig gewachsen. Ein Indikator dafür ist die Entwicklung der einkommensspezifischen Sparquoten. Denn um Kapitaleinkommen zu erzielen, muss erst einmal Geld zurückgelegt werden. Berechnungen des WSI mit dem SOEP ergeben, dass nur das oberste Quartil seine Sparquote in den meisten Jahren seit 1991 bei neun bis zehn Prozent des verfügbaren Einkommens stabil halten konnte. Die ärmere Hälfte der Haushalte kann dagegen deutlich weniger sparen als noch Anfang der 1990er Jahre. Die Sparquoten in den beiden unteren Quartilen sackten von acht bis neun auf fünf bis sechs Prozent 2009 ab. Im Aufschwungjahr 2010 legte zwar das unterste Quartil wieder zu - auf gut sechs Prozent. Da aber auch die einkommensstarken Einkommen mehr sparten, blieb der Abstand erhalten. Und da die Ersparnis der ärmeren Haushalte in absoluten Eurobeträgen gering ist, dürfte sie auch kaum in Kapitalanlagen fließen, die relevante Erträge abwerfen.

Um den Trend zu mehr Ungleichheit nachhaltig zu stoppen, empfiehlt das WSI Reformen in der Arbeitsmarkt- und der Steuerpolitik. "Eine angemessene Lohnentwicklung muss die Teilhabe aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der wirtschaftlichen Entwicklung sicherstellen", schreiben die Forscher. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und eine "Re-Regulierung im Bereich der prekären Beschäftigungsverhältnisse" leisteten einen wichtigen Beitrag dazu, "Lohndumping zu begrenzen und eine Ausweitung des Niedriglohnsektors zu verhindern". Darüber hinaus könne eine Stabilisierung des Flächentarifvertragssystems helfen, über das gesamte Tätigkeits- und Qualifikationsspektrum hinweg angemessene Einkommensbedingungen zu gewährleisten.

In der Steuerpolitik plädieren die Wissenschaftler dafür, die massive Absenkung des Spitzensteuersatzes seit 1999 zu korrigieren. Daneben sei eine stärkere Besteuerung von großen Vermögen nötig, um eine weitere Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverteilung zu verhindern.


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