17.12.2015 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Taylor Wessing Deutschland.
In einer aktuellen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 04. November 2015 (7 ABR 42/13), die bereits in dem Newsletter 45/2015 kurz erwähnt wurde, jedoch aufgrund der weitreichenden Konsequenzen noch näher beleuchtet werden soll. Die Entscheidungsgründe sind bisher noch nicht veröffentlicht, es liegt lediglich eine Pressemitteilung vor. Das BAG hat sich in diesem Beschluss erstmals in jüngerer Zeit mit der seit langer Zeit umstrittenen Frage auseinandergesetzt, ob in einem Unternehmen eingesetzte Zeitarbeitnehmer bei der Ermittlung der für die unternehmerische Mitbestimmung maßgeblichen Schwellenwerte mitzuzählen sind. Genaugenommen ging es hierbei zwar „nur“ um die Frage, ob die Beschäftigung von Zeitarbeitnehmern auf Stammarbeitsplätzen Auswirkungen auf das Wahlverfahren der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat hat. Vor dem Hintergrund der Tendenz der Rechtsprechung, die sich in dieser und anderen Entscheidungen erkennen lässt und derzeitigen politischen Plänen (Newsletter 45/2015) gibt der Beschluss Unternehmen dennoch (erneut) Anlass, zu prüfen, wie viele Arbeitnehmer die eigene Gesellschaft und ggf. der abhängige Konzern insgesamt bei weitester Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs (unter Einbeziehung der Zeitarbeitnehmer und der Arbeitnehmer im europäischen Ausland) derzeit beschäftigt und ob damit die Voraussetzungen einer unternehmerischen Mitbestimmung im Aufsichtsrat gegeben sind oder in naher Zukunft gegeben sein werden.
Nach dem Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) und dem Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) sind Gesellschaften, die in bestimmten Rechtsformen gebildet sind (unter anderem Aktiengesellschaft und GmbH) verpflichtet, einen Aufsichtsrat zu bilden, in dem Vertreter der Arbeitnehmer Mitglieder sind. Wenn noch kein Aufsichtsrat besteht (wie es bei der GmbH häufig der Fall ist), verpflichten diese Gesetze zur Gründung eines solchen Aufsichtsrats. Nach dem DrittelbG muss der Aufsichtsrat der Gesellschaft zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern bestehen, wenn diese Gesellschaft in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt. Beschäftigt die Gesellschaft in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmer muss der Aufsichtsrat nach dem MitbestG sogar zu 50% aus Arbeitnehmervertretern bestehen. Diese Schwellenwerte sind häufiger schneller erreicht als gedacht. In Konzernen sind nicht immer nur die eigenen Arbeitnehmer der Muttergesellschaft zu berücksichtigen. Nach dem DrittelbG werden der Muttergesellschaft vielmehr auch die Arbeitnehmer solcher abhängiger Konzerngesellschaften zugerechnet, mit denen ein Beherrschungsvertrag besteht. Nach dem MitbestG werden der Muttergesellschaft die Arbeitnehmer der abhängigen Konzerngesellschaften sogar ohne Vorliegen eines Beherrschungsvertrages zugerechnet. Derzeit wird vor allem im Hinblick auf zwei Gruppen von Arbeitnehmern diskutiert, ob sie für die Schwellenwerte zu berücksichtigen sind.
Dies sind zum einen die Arbeitnehmer europäischer Konzerngesellschaften. Nach bisheriger gefestigter Ansicht sind diese Arbeitnehmer nicht zu berücksichtigen. Dies hat das Landgericht Frankfurt in einer Entscheidung vom 16. Februar 2015 (3-16 O 1/14) jedoch anders beurteilt. In diesem Beschluss, der in unserem Newsletter 13/2015 besprochen wurde, hat das LG Frankfurt entschieden, dass die Gesamtzahl der europaweit durch einen Konzern beschäftigten Arbeitnehmer für die Schwellenwerte zu berücksichtigen sei. In dem entschiedenen Fall würde dies nach Ansicht des LG Frankfurt dazu führen, dass der Aufsichtsrat der betroffenen Gesellschaft nicht nur zu einem Drittel, sondern aufgrund Anwendbarkeit des MitbestG zur Hälfte aus Arbeitnehmervertretern zu bilden ist. Diese Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. In einem teilweise vergleichbaren Verfahren zur Frage der aktiven und passiven Wahlberechtigung der europäischen Arbeitnehmer bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat hat das Kammergericht Berlin zudem kürzlich den Europäischen Gerichtshof um eine Vorabentscheidung ersucht (KG Berlin, EUGH Vorlage vom 16.10.2015 – 14 W 89/15). Eine Berücksichtigung der europäischen Konzernarbeitnehmer würde bei einer Vielzahl deutscher Unternehmen mit europäischen Tochtergesellschaften zu einer unternehmerischen Mitbestimmung führen.
Die andere Gruppe, deren Berücksichtigung bei der unternehmerischen Mitbestimmung diskutiert wird, ist diejenige der Zeitarbeitnehmer. Während gesetzlich geregelt ist, dass Zeitarbeitnehmer, die zumindest drei Monate im Betrieb beschäftigt sind, bei der Wahl der Vertreter im Aufsichtsrat mitwählen dürfen, ist gesetzlich nicht geregelt, ob und unter welchen Umständen Zeitarbeitnehmer für die Ermittlung der Schwellenwerte zu berücksichtigen sind. Ob zumindest diejenigen Zeitarbeitnehmer bei der Feststellung des Schwellenwerts mitzuzählen sind, die auf regelmäßig zu besetzenden Arbeitsplätzen beim Entleiher beschäftigt sind bzw. auf Stellen des Entleihers eingesetzt werden, die Bestandteil des Personalplans sind, ist seit langer Zeit umstritten. In der juristischen Literatur wird derzeit wohl noch überwiegend eine Einbeziehung von Zeitarbeitnehmern in die Berechnung der Schwellenwerte abgelehnt. Auch das Oberlandesgericht Hamburg hat sich in einer jüngeren Entscheidung gegen die Einbeziehung ausgesprochen (OLG Hamburg, Beschl. v. 31.01.2014 – 11 W 89/13). Nach dieser Ansicht dürfen die Zeitarbeitnehmer also wählen, zählen jedoch nicht bei der Ermittlung der maßgeblichen Arbeitnehmerzahl mit. Das BAG hat seit 2011 jedoch in einer Vielzahl von Entscheidungen zum Betriebsverfassungsgesetz entschieden, dass zumindest Zeitarbeitnehmer, die auf Arbeitsplätzen beschäftigt werden, die in der Regel mit Zeitarbeitnehmern besetzt sind, bei der Ermittlung der Arbeitnehmerzahl für die Schwellenwerte der Betriebsverfassung zu berücksichtigen sind (u.a. BAG, Urt. v. 18.10.2011 – 1 AZR 335/10; BAG, Urt. v. 24.01.2013 – 2 AZR 140/12, BAG, Beschl. v. 13.03.2013 – 7 ABR 69/11).
Eine Entscheidung im Hinblick auf die Schwellenwerte der Gesetze zur unternehmerischen Mitbestimmung stand jedoch noch aus. Da sich die Konzepte der betriebsverfassungsrechtlichen und der unternehmerischen Mitbestimmung deutlich voneinander unterscheiden, wurde eine solche Entscheidung mit Spannung erwartet. Die vorliegend besprochene Entscheidung des BAG betrifft zumindest das unternehmerische Mitbestimmungsrecht, wenn auch die Frage der Berücksichtigung für die Schwellenwerte der Beteiligung im Aufsichtsrat unentschieden bleibt.
In dem streitgegenständlichen Verfahren wurde die Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat eingeleitet. Der Wahlvorstand ging aufgrund der Berücksichtigung von 444 Zeitarbeitnehmern, die nach Ansicht des Wahlvorstands Stammarbeitsplätze besetzten, von einer Beschäftigungszahl von über 8.000 aus. Eine Gruppe von Arbeitnehmern war hingegen der Ansicht, dass die Zeitarbeitnehmer nicht zu berücksichtigen seien und ging daher von einer maßgeblichen Arbeitnehmerzahl von unter 8.000 aus. Hintergrund ist, dass nach § 9 MitbestG die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat in Unternehmen mit in der Regel mehr als 8.000 Arbeitnehmern durch eine Delegiertenwahl gewählt werden, sofern nicht eine unmittelbare Wahl beschlossen wird. In Unternehmen mit in der Regel nicht mehr als 8.000 Arbeitnehmern wird hingegen in der Regel durch unmittelbare Wahl gewählt.
Das LAG Hessen hatte in der Vorinstanz entschieden, dass bei der Ermittlung des Schwellenwerts für das Wahlverfahren diejenigen Zeitarbeitnehmer, die seit mehr als drei Monaten in dem Betrieb beschäftigt und deshalb wahlberechtigt sind, mitzählen und deshalb eine Delegiertenwahl stattzufinden hat. Das BAG hat diese Entscheidung bestätigt. Es stellt hierbei darauf ab, dass das MitbestG den Begriff „Arbeitnehmer“ nicht selbst definiert, sondern auf den Begriff des Betriebsverfassungsgesetzes verweist. Ob Zeitarbeitnehmer bei der Feststellung von Schwellenwerten zu berücksichtigen seien, hänge von einer normzweckorientierten Auslegung des jeweiligen gesetzlichen Schwellenwertes ab. Ausgehend davon entschied das BAG, dass wahlberechtigte Zeitarbeitnehmer auch bei der Ermittlung der für das Wahlverfahren maßgeblichen Arbeitnehmerzahl zu berücksichtigen seien.
Das BAG hat laut der Pressemitteilung ausdrücklich offen gelassen, ob Zeitarbeitnehmer auch bei anderen Schwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung zu berücksichtigen sind. Vor allem ist somit keine Entscheidung dahingehend getroffen, ob Zeitarbeitnehmer bei der Frage zu berücksichtigen sind, ob in einer Gesellschaft oder einem Konzern regelmäßig mehr als 500 bzw. 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt sind, so dass ein mitbestimmter Aufsichtsrat mit Arbeitnehmervertretern zu errichten ist. Die Entscheidung bestätigt jedoch die deutliche Tendenz der Rechtsprechung, dass Zeitarbeitnehmer zumindest dann, wenn sie auf dauerhaft besetzten Arbeitsplätzen beschäftigt sind, mitzählen.
Möglicherweise wird die Rechtsprechung in dieser Frage jedoch auch von der Gesetzgebung überholt. Wie in unserem Newsletter 45/2015 besprochen, sieht der Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes vom 16. November 2015 eine Ergänzung der Arbeitnehmerüberlassungsgesetze vor, nach der Zeitarbeitnehmer künftig unabhängig von ihrer Einsatzdauer auch bei der Ermittlung von mitbestimmungsrechtlichen Schwellenwerten zu berücksichtigen sind. Dies würde die unternehmerische Mitbestimmung erheblich ausweiten.
Vor dem Hintergrund dieser Tendenz in der Rechtsprechung und Politik, Zeitarbeitnehmer künftig bei der Ermittlung der für die Unternehmensmitbestimmung maßgeblichen Arbeitnehmerzahl zu berücksichtigen und vor dem Hintergrund der Entscheidung des LG Frankfurt zur Berücksichtigung europäischer Konzernarbeitnehmer ist zu empfehlen, dass Unternehmen prüfen, ob sie derzeit nach weitester Auslegung die Schwellenwerte überschreiten oder in der Regel gleichwohl noch weniger als 500 bzw. 2.000 Arbeitnehmern beschäftigen. Es gibt rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten, die Frage der unternehmerischen Mitbestimmung im Sinne von Unternehmen zu optimieren. Dafür ist es zum Teil jedoch erforderlich, dass vor Überschreiten der Schwellenwerte gehandelt wird. Vor dem Hintergrund, dass derartige Optimierungen einiges an Zeit in Anspruch nehmen, ist eine zeitnahe Prüfung zu empfehlen.