29.08.2019 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Ein Wissenschaftlerteam um Prof. Dr. Hans Diefenbacher vom Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) Heidelberg hat den NWI, der auch soziale und ökologische Faktoren bei der Wohlstandmessung einbezieht, im Auftrag des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung soeben aktualisiert. 2017, so die nun vorliegenden neuesten Daten, ist der Wohlstand um 0,9 Prozent gewachsen, während das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 2,2 Prozent zunahm.
Damit hebt sich der Aufschwung seit 2014 deutlich von der Zeit von 2000 bis 2013 ab. Seit 2014 erhöhte sich der Wohlstand um 1,6 Prozent im Jahresdurchschnitt, während das BIP im Mittel um 2,1 Prozent zulegte. In der längeren Frist dagegen klaffen BIP und Wohlstandsentwicklung deutlicher auseinander. Das BIP ist zwischen 1991 und 2017 real um rund 43 Prozent gewachsen. Der gesamtgesellschaftliche Wohlstand in der Bundesrepublik hat hingegen im gleichen Zeitraum lediglich um knapp 8,1 Prozent zugenommen und ist in der Phase von 2000 bis 2005 sogar gefallen. Trotz der „Verstetigung eines positiven Trends“ in jüngster Zeit, so die Forscher, befand sich das gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsniveau deshalb Ende 2017 nur auf dem gleichen Stand wie 20 Jahre zuvor. Der Wohlstand seit 2014 hat sich etwas stärker als zuvor entwickelt, weil auch die Einkommen breiterer Arbeitnehmerschichten und dadurch der private Konsum real spürbar gestiegen sind.
Hauptgrund für das relativ schwache Abschneiden bei der langfristigen Wohlfahrtsentwicklung ist nach Analyse der Forscher der fortwirkende deutliche Anstieg der Einkommensungleichheit vor allem in den 2000er Jahren. Damals stagnierten die Reallöhne vieler Beschäftigter, während Kapital- und Unternehmenseinkommen stark zunahmen. Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit der Einkommen ausweist, erhöhte sich deutlich von 0,247 auf 0,291. Auf diesem erhöhten Niveau verharrte die Ungleichheit auch 2017, betonen die Wissenschaftler. Das neutralisiert einen Teil der Zunahme beim privaten Konsum (um 24 Milliarden Euro im Jahr 2017), den der Indikator als einen wesentlichen Faktor für Wohlstandszuwächse breiterer Bevölkerungsschichten heranzieht (mehr zur Methode unten). Leicht positiv wirkte sich laut NWI 2017 zudem aus, dass die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit und Bildung erhöht wurden (Wohlstandszuwachs um 0,5 Milliarden Euro), während die gesellschaftlichen Schäden durch Verkehrsunfälle, Luftschadstoffe und Nutzung der Atomkraft leicht (zusammen um 2,4 Milliarden Euro) zurückgingen.
„Die neuen Ergebnisse zeigen zweierlei: Erstens sind die Erträge des Aufschwungs in den vergangenen Jahren mehr Menschen zugutegekommen als in den 2000er- oder späten 1990er-Jahren. Sie wurden also etwas gerechter verteilt. Das ist gut so, auch weil die zusätzliche Nachfrage unsere Wirtschaft stabilisiert. Das ist in Zeiten von Brexit und Trump besonders wichtig. Die Politik sollte alles daran setzen, diesen Trend zu verstärken“, sagt IMK-Direktor Prof. Dr. Sebastian Dullien. „Zweitens hat Deutschland in Sachen sozialer sowie ökologischer Nachhaltigkeit eine Menge Spielraum nach oben. Unsere Gesellschaft ökologischer und gerechter zu gestalten könnte leicht den gesellschaftlichen Wohlstand spürbar erhöhen, wie die Szenarien bis 2030 zeigen, die das FEST in seiner Studie ebenfalls vorlegt.“
Der NWI hat das Ziel, Lücken zu schließen und Widersprüche aufzulösen, die sich bei der klassischen Methode der Wohlstandsmessung allein über das BIP ergeben. So kritisieren viele Experten, dass das Inlandsprodukt weder die Verteilung der Einkommen noch Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen angemessen erfasst. Beispielsweise steigern Sanierungsarbeiten, mit denen Umweltverschmutzungen beseitigt werden, in vollem Umfang das BIP. Die Umweltschäden werden hingegen nicht negativ berücksichtigt.
Die Wissenschaftler beziehen für den NWI insgesamt 20 Komponenten ein, um ein realistischeres Bild zu erhalten. Zu den wichtigsten zählt der private Konsum, der mit dem Gini-Index gewichtet wird. Das heißt: Wird die Verteilung ausgeglichener, gibt das Pluspunkte beim Konsum, steigende Ungleichheit führt zu einem Abzug. Das begründen die Forscher nicht moralisch, sondern ökonomisch: Wenn zusätzliche Einkommen Menschen mit geringeren Einkommen zufließen, stiften sie dort einen höheren „Grenznutzen des Konsums“ als bei Reichen, bei deren Einkommen der gleiche absolute Zuwachs kaum ins Gewicht fällt und die gleichzeitig bereits sehr gut mit Gütern und Dienstleistungen versorgt sind.
Darüber hinaus erfasst der NWI unter anderem auch die Wertschöpfung durch Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten sowie einen Teil der öffentlichen Ausgaben für Gesundheit und Bildung als wohlfahrtsstiftend. Von der Bilanz abgezogen werden dagegen etwa Aufwendungen zur Kompensation von Umweltbelastungen, Ausgaben für nicht erneuerbare Energieträger, Schäden durch Luftverschmutzung, Treibhausgase oder Lärmbelästigung sowie Kosten, die durch Verkehrsunfälle entstehen. Auf diese Weise haben die Forscher in ihre Berechnung einen Korrekturfaktor eingebaut, um „Schattenseiten“ des grundsätzlich positiv gewerteten Konsums zu erfassen. Da bislang für viele Umweltbelastungen noch nicht genug Daten oder realistische „Preise“ vorliegen, gehen die FEST-Experten selber von einer „Unterbewertung ökologischer Aspekte im NWI“ aus. In künftigen Updates des Indikators wollen sie sich der Realität weiter annähern.
Für die Wohlfahrtsentwicklung seit 1991 identifizieren die Forscher vor der aktuellen Phase seit 2014 drei frühere, die sich deutlich voneinander unterscheiden (siehe Schaubild 1):
Welche Potenziale es für die künftige Wohlstandsentwicklung haben kann, wenn Deutschland seine Klimaschutzziele für 2030 engagiert verfolgt, schätzen die FEST-Forscher abschließend über eine Szenarienberechnung ab. Dabei handelt es sich nicht um eine Prognose zur Wirtschaftsentwicklung in diesem Zeitraum, weil die aus Sicht der Wissenschaftler zu viele Unwägbarkeiten beinhaltet. Doch die Rechnung macht anschaulich, welche Einsparungen beispielsweise möglich sind, wenn der im Ziel formulierte Anteil regenerativer Energien an Stromerzeugung (65 Prozent), Wärme (30 Prozent) und Verkehr (20 Prozent) erreicht wird: Das FEST kalkuliert allein mit 150 Milliarden Euro geringeren gesamtgesellschaftlichen Kosten, weil weniger für den Kauf fossiler Energieträger ausgegeben werden muss und die Luftverschmutzung weniger Schäden verursacht.
Auch für ein zweites Szenario, in dem die Einkommensungleichheit auf den Stand von 1991 zurückgeführt würde, machen die Wissenschaftler erhebliche Wohlstandsgewinne aus. Denn wenn das gesamtgesellschaftliche Einkommen etwas gleichmäßiger verteilt wäre, würde es auch bei gleichem Volumen einen höheren Grenznutzen stiften – Diefenbacher und seine Ko-Autoren veranschlagen den Wert des NWI dann auf zusätzlich gut 230 Milliarden Euro bis 2030.