06.11.2013 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Taylor Wessing Deutschland.
Im Jahr 2003 vereinbarten die Tarifvertragsparteien der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg mit dem Entgeltrahmen-Tarifvertrag (ERA-TV) sowie den ihn begleitenden weiteren Tarifverträgen, dass in den Betrieben bis spätestens zum 29. Februar 2008 ein neues Entgeltsystem einzuführen ist. Das ERA sollte nicht nur die - notwendige - Gleichbehandlung der Arbeitnehmergruppen im Entgeltbereich regeln, sondern darüber hinaus auch neue tarifliche Rahmenbedingungen für eine zeitgemäße Leistungsentlohnung schaffen. Nach der Modellrechnung der Tarifparteien war mit systembedingten Kosten für die Einführung des ERA in Höhe von 2,79 % zu rechnen. Um der Forderung der „Kostenneutralität“ Rechnung zu tragen, einigten sich die Tarifpartner schließlich darauf, den tariflichen Anstieg der Entgeltsätze bis zur ERA-Einführung um 2,79 % durch die Einführung so genannter „ERA-Strukturkomponenten“ zu vermindern. In der Sache handelt es sich bei diesen ERA-Strukturkomponenten um tariflich geschuldete Einmalzahlungen, die jedoch nur zum Teil an die Beschäftigten ausgezahlt wurden. Auf den anderen Teil dieser ERA-Strukturkomponenten entstanden keine individuellen Ansprüche der Arbeitnehmer mehr. Sie dienten vielmehr – bis die genannte Grenze von 2,79 % erreicht war – dem Aufbau eines so genannten ERA-Anpassungsfonds, mit dem der durch die Einführung von ERA zu erwartende Kostensteigerungseffekt aufgefangen werden sollte.
Die klagenden Parteien waren bei der nichttarifgebundenen Beklagten, einem Betrieb der Baden-Württembergischen Metallindustrie, beschäftigt. In ihren Arbeitsverträgen war die Anwendung der „Tarifverträge für die Metallindustrie Baden-Württemberg“ vereinbart. Die Beklagte zahlte ihnen stets das jeweilige Entgelt nach den Tarifgruppen des Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrages der Metallindustrie in Baden-Württemberg.
In den „Tarifverträgen über die ERA-Strukturkomponenten“ war für die Beschäftigten ein Anspruch auf Einmalzahlung zu bestimmten Zeitpunkten vereinbart, wenn das „ERA-Entgeltsystem“ nicht bis zum 29. Februar 2008 eingeführt worden ist. Die Beklagte, die zunächst das neue Entgeltsystem einführen wollte und deshalb einen Anpassungsfonds gebildet hatte, gab diese Absicht im Jahr 2008 auf.
Die klagenden Parteien haben die Einmalzahlung für den Zeitraum März 2008 bis August 2010 verlangt und die Auffassung vertreten, die Beklagte sei auch als nichttarifgebundenes Unternehmen aufgrund der Bezugnahmeklauseln zur Einführung des ERA-Entgeltsystems bis zum 29. Februar 2008 verpflichtet gewesen. Weil dies nicht erfolgt sei, bestehe ein Anspruch auf die Einmalzahlungen („Strukturkomponenten“). Die Beklagte hat hingegen die Ansicht geäußert, sie sei rechtlich gehindert, das ERA-Entgeltsystem einzuführen. Dieses sei aufgrund der darin enthaltenen betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen nur betriebseinheitlich umsetzbar.
Das Arbeitsgericht hat den Zahlungsklagen zunächst stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat diese jedoch abgewiesen. Der 4. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat den Revisionen der klagenden Parteien allerdings stattgegeben. Sie haben nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts einen Anspruch auf die begehrten „Strukturkomponenten“. Die Beklagte war aufgrund der vertraglichen Bezugnahmeklauseln verpflichtet, jedenfalls die Inhaltsnorm des ERA-TV bis zum 29. Februar 2008 in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen umzusetzen.
Die nicht rechtzeitige Einführung des ERA-Entgeltsystems kann nun zu erheblichen Nachforderungen der Beschäftigten der Metallindustrie führen, so Marc André Gimmy, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Head of Employment von Taylor Wessing Deutschland. Dies gilt nicht nur bei unmittelbarer Tarifbindung, sondern auch bei der Anwendung des Tarifvertrages über die ERA-Strukturkomponenten aufgrund einzelvertraglicher Bezugnahmeklauseln. In welcher Höhe sich ein solcher Anspruch auf Einmalzahlung tatsächlich ergibt, hängt davon ab, inwieweit diese nicht bereits verjährt und ob entsprechende Zahlungsansprüche aufgrund von Verfallfristen gar nicht mehr geltend gemacht werden können. In diesem Rahmen besteht nun nach der Entscheidung des 4. Senats des Bundesarbeitsgerichts ein erhebliches Risiko, dass bei nicht rechtzeitiger Umsetzung des ERA-Entgeltsystems Zahlungsansprüche gegen die Arbeitgeber der Metallindustrie geltend gemacht werden.
Für diejenigen Arbeitgeber, auf die die Tarifverträge über das ERA-Entgeltsystem kraft Tarifbindung oder kraft einzelvertraglicher Bezugnahmeklauseln Anwendung finden und die das ERA-Entgeltsystem bisher nicht rechtzeitig eingeführt haben, gilt daher, dies umgehend nachzuholen und dabei auch die Regelung der gegebenenfalls bereits entstandenen Ansprüche auf Einmalzahlungen nicht unberücksichtigt zu lassen.
Urteil vom 12. Juni 2013 - 4 AZR 969/11
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