19.02.2015 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Technische Universität München.
Beschäftigte beklagen einen geringer werdenden Entfaltungsspielraum. Diese Studienergebnisse haben die TU München und das ISF München heute auf einer internationalen Konferenz vorgestellt. Bundesarbeitsministerin Nahles forderte dort, die Möglichkeiten der Digitalisierung für ein Mehr an Freiheit zu nutzen.
Die digitale Vernetzung hat nicht nur das Alltagsleben verändert, sondern stellt auch die Arbeitsorganisation in Unternehmen auf den Prüfstand. Beschäftigte können und sollen ihr Wissen permanent teilen, Schnittstellen organisieren, über Abteilungsgrenzen hinweg interagieren. Das bedeutet auch: Unternehmen sind mehr denn je abhängig von der aktiven Beteiligung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber können in denselben Unternehmen dann noch die Entscheidungen von einsamen Herrschern an der Spitze getroffen werden?
Schon heute gibt es Unternehmen, in denen Mitarbeiter das Management wählen, sich in Führungsrollen abwechseln, über Arbeitszeiten und Gehälter abstimmen, vor wichtigen Entscheidungen eingebunden werden oder die Bilanzen einsehen können. Über diese Modelle und ihre Wirkungen diskutieren heute Unternehmer, Gewerkschafter, Politiker und Wissenschaftler auf der Konferenz „Das demokratische Unternehmen – Aufbruch in eine neue Humanisierung der Arbeitswelt?“ der Technischen Universität München (TUM), des Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München und der Human Ressources Alliance.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales, betonte: „Demokratie fängt dort an, wo die Beschäftigten als ,Bürger im Betrieb’ ernstgenommen werden. Insbesondere die durch Digitalisierung veränderte Arbeitswelt bietet hier enorme Chancen und Möglichkeiten, ein Mehr an Freiheit und Vereinbarkeit von Leben und Beruf zu erreichen. Allerdings lohnt der genaue Blick: Denn allzu oft ist Autonomie in einer Welt der sich verschränkenden Sphären mehr Illusion als Realität. Wir brauchen daher einen neuen Flexibilitätskompromiss. Unverzichtbar für dessen nachhaltige Verankerung in den Betrieben ist die institutionalisierte betriebliche Mitbestimmung, gründend auf dem Betriebsverfassungsgesetz, zweifellos einem der wichtigsten Demokratisierungsschübe, den die Betriebe in Deutschland je erfahren haben.“
Thomas Sattelberger, Vorsitzender der Human Ressources Alliance, forderte: „Demokratische Unternehmen sind eine neue Option der Unternehmensentwicklung und führen zu einem Systemwettbewerb, dem sich die starre deutsche Wirtschaft stellen muss. Vor allem Unternehmen, die von Innovationskompetenz leben, sind gefordert, nicht nur Souveränität bei Arbeitszeit und Arbeitsort sowie Mitsprache bei der Wahl von Führungskräften und Teamkollegen einzuräumen, sondern auch Mitarbeiter aktiv an der Entwicklung der Unternehmen teilhaben zu lassen.“
Die auf der Konferenz vorgestellten Forschungsergebnisse der TU München und des ISF München bestätigen, dass die Erwartungen der Beschäftigten, die Strategien der Unternehmen und die Wirkungen neuer Organisationsformen vielfach (noch) nicht zueinander passen.
In einer repräsentativen Umfrage der TUM unter rund 1.000 Deutschen im Alter von 18 bis 65 Jahren stimmten rund zwei Drittel der Befragten ganz oder teilweise der Aussage zu, dass Unternehmen demokratischer geführt werden sollten. Attraktiv fand die Mehrzahl die Vorstellung, die eigene Führungskraft zu wählen, und mehr noch, die Firmenstrategie mitzubestimmen. Allerdings schätzten die Befragten es im Schnitt als wenig realistisch ein, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen.
Das spiegelt sich in den Einschätzungen von 45 Führungskräften, die die Wirtschaftswissenschaftler in einer zweiten Studie befragt haben: Die meisten Merkmale einer demokratischen Arbeitsorganisation werden auf der Chef-Ebene als schwer realisierbar betrachtet – vor allem die Möglichkeit der Mitarbeiter, betriebliche Daten wie etwa Gehälter einzusehen. Auffällig war, dass kleinere Unternehmen (zumindest in der Selbsteinschätzung) demokratischer agieren als größere. Dabei zeigt eine dritte TUM-Studie, dass dies für Unternehmen zum wichtigen Faktor im Wettbewerb um Personal und Geldgeber werden kann: Merkmale einer demokratischen Organisationsstruktur wirkten positiv sowohl auf die Attraktivität als Arbeitgeber als auch auf die Entscheidung, in die Unternehmen zu investieren. Probanden waren rund 200 Studierende und Berufsanfänger sowie 78 Investoren.
„Überall dort, wo Menschen unterschiedliche Perspektiven haben, wo es wichtig ist, Wissen, das auf mehrere Köpfe verteilt ist, zusammenzubringen – da sind demokratische Verfahren sehr geeignet“, sagt Studienleiterin Prof. Isabell Welpe vom TUM-Lehrstuhl für Strategie und Organisation. „Technischer Wandel alleine, der nicht unterstützt wird von sozialem und organisatorischem Wandel, kann nicht funktionieren.“
Dass die technischen Möglichkeiten nicht zwangsläufig zu mehr Demokratie führen, zeigt die Forschung des ISF München. In 14 Fallstudien der derzeit laufenden Forschungsprojekte „WING“ und „Digit-DL“ haben die Wissenschaftler in Unternehmen mehr als 150 Tiefeninterviews auf allen Hierarchieebenen geführt. Dabei stellten sie fest, dass viele Unternehmen mit den technischen Möglichkeiten der Datenauswertung rigide auf das Prinzip „Steuern nach Zahlen“ setzen – was selbst bei einer flacheren Hierarchie zu mehr Entscheidungsmacht an der Spitze führt. Sogar Führungskräfte auf der mittleren Ebene geben an, sich als zahlengetriebene Exekutoren von Sachzwängen zu sehen. Von mehr Kontrolle sind auch Arbeitsfelder nicht ausgenommen, die eigentlich als prädestiniert für kollaboratives und eigenverantwortliches Arbeiten gelten, wie etwa die „Wissensarbeit“.
Verbal besonders hochgehalten werden die Werte Transparenz, Zusammenarbeit und geteiltes Wissen, wenn Unternehmen mit Crowd- und Open-Innovation-Modellen arbeiten. Doch auch für die Mitarbeiter dieser Unternehmen bedeutet dies nicht immer mehr Entfaltungsspielraum. Stattdessen müssen sie sich vielfach gegen externe Ansprüche behaupten und erleben dies als Gefühl der Austauschbarkeit.
„Mit Blick auf die Demokratisierung der Arbeit bewegen wir uns auf eine Scheidelinie zu“, sagt ISF-Vorstand PD Dr. Andreas Boes. „Neue Möglichkeiten der Beteiligung und des Empowerments der Mitarbeiter könnten demokratischen Unternehmen zum Durchbruch verhelfen. Gegenläufig ist aber auch eine Form der Herrschaft derjenigen denkbar, die die Daten besitzen.“
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