01.09.2015 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.
Nein, zeigt eine Untersuchung des WSI-Tarifarchivs in der Hans-Böckler-Stiftung: Eine Analyse der tariflichen Arbeitszeitbestimmungen belegt quer über alle Wirtschaftszweige hinweg ein kaum noch zu steigerndes Maß an flexiblen Anpassungsmöglichkeiten an betriebliche Produktions- und Arbeitserfordernisse. „Wir brauchen keine Aufweichung von Schutzregelungen, sondern eine kluge Nutzung der bestehenden Gestaltungsspielräume“, sagt Dr. Reinhard Bispinck, Leiter des WSI-Tarifarchivs. „Pauschale Forderungen nach noch mehr Flexibilisierung sind aber nicht nur unnötig, sie würden auch die Probleme noch weiter verschärfen, die Beschäftigte haben, wenn sie Arbeit und Familienleben unter einen Hut bringen müssen.“ Defizite gebe es vielmehr bei belastbaren Regelungen zur besseren Umsetzung der Arbeitszeitinteressen von Beschäftigten. „Es ist höchste Zeit für eine gesellschaftliche Debatte über eine Arbeitszeitpolitik, die sich an den wechselnden Interessen der Beschäftigten im Lebensverlauf orientiert. Dabei spielt auch eine weitere Arbeitszeitverkürzung eine wichtige Rolle“, so der Tarifexperte.
Die bestehenden tariflichen Regelungen zur Arbeitszeitgestaltung bieten eine Fülle an Möglichkeiten der flexiblen Arbeitszeitgestaltung, zeigt die WSI-Analyse. Es handelt sich um:
Diese Grundmodelle lassen sich miteinander kombinieren. So bestehe nahezu in allen Tarifbereichen, unabhängig von weiteren Flexi-Bestimmungen, die Möglichkeit der unregelmäßigen Verteilung der tariflichen Regelarbeitszeit, erklärt Tarifexperte Bispinck. Hinzu komme als wichtigste weitere Möglichkeit der Flexibilisierung das (zulässige) Überschreiten der Regelarbeitszeit durch Mehrarbeit.
In der Metallindustrie ergeben sich beispielsweise aus diesen wenigen Komponenten breite tariflich erlaubte Arbeitszeitspielräume, die die tabellarische Übersicht 1 in der pdf-Version zeigt.
In vielen Tarifbereichen kann die regelmäßige Arbeitszeit ungleichmäßig verteilt werden, zeigt die WSI-Analyse. Die dafür vorgesehenen Ausgleichszeiträume und zulässigen Bandbreiten wurden teilweise erheblich ausgeweitet. In einer Reihe von Branchen bestehen tarifliche Arbeitszeitkorridore, innerhalb derer die Arbeitszeit dauerhaft verlängert oder verkürzt werden kann. Zwei Beispiele:
Neben der dauerhaften Variation der Arbeitszeit spielt insbesondere in konjunkturellen Krisenzeiten die Möglichkeit der befristeten Verkürzung tariflicher Arbeitszeiten und zur Kurzarbeit eine wichtige Rolle. Sie zielen vor allem auf die Möglichkeit der Beschäftigungssicherung für Beschäftigtengruppen oder ganze Betriebe. Inzwischen bestehen laut der WSI-Analyse in nahezu allen größeren Branchen tarifliche Regelungen, die eine befristete Herabsetzung der tariflichen Arbeitszeit ermöglichen (siehe auch die Beispiele in Übersicht 2 in der pdf-Version). In aller Regel wird das Tarifentgelt entsprechend abgesenkt, allenfalls ein Teillohnausgleich ist geregelt.
Die meisten Tarifverträge enthalten Unter- und Obergrenzen für die Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit, oftmals auf den Tag und die Woche bezogen. Der Ausgleichszeitraum gibt vor, im welcher Zeit die vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit durchschnittlich erreicht werden muss.
Über die unregelmäßige Verteilung der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit hinaus ist das Instrument der Mehrarbeit ein wichtiger Hebel zur Arbeitszeitflexibilisierung, so Bispinck. Mehrarbeit ist in manchen Branchen tarifvertraglich nicht begrenzt (z.B. chemische Industrie, Druckindustrie, öffentlicher Dienst), in anderen sind maximale Mehrarbeitsstunden festgelegt (z.B. Metall Nordwürttemberg-Nordbaden: zusätzlich 10 Std./Woche bzw. 20 Std./Monat). Oder es besteht eine indirekte Begrenzung durch tägliche/wöchentliche Höchstarbeitszeit (z.B. Stahl: maximal 10 bzw. 47 Std. pro Tag/Woche). Die Ausgleichsregelungen für Mehrarbeit fallen ebenfalls unterschiedlich aus. Freizeitausgleichsregelungen bestehen oftmals gar nicht oder sind als Kann-/Soll-Regelungen ausgelegt. Manchmal ist der Zeitraum für diesen Ausgleich auch großzügig bemessen (z.B. Landwirtschaft Bayern: 12 Monate). Im Zweifel wird also die Mehrarbeit zwar bezahlt, aber es besteht keine Möglichkeit des Freizeitausgleiches für die Beschäftigten.
Die meisten Tarifverträge lassen in irgendeiner Form Samstagsarbeit zu. Manchmal fehlen unmittelbare Regelungen zur Samstagsarbeit (z.B. Bauhauptgewerbe), gelegentlich finden sich allgemeine Begrenzungen (z.B. Bekleidungsindustrie: Samstags grundsätzlich arbeitsfrei), die Ausnahme sind präzise Beschränkungen (z.B. Druckindustrie: nur zur Produktion von Zeitungen/Zeitschriften zulässig). Sonntagsarbeit wird vielfach nicht gesondert geregelt. Ausdrücklich zugelassen ist die Einbeziehung des Sonntags in die Regelarbeitszeit in der Landwirtschaft und im Hotel- und Gaststättengewerbe.
Das vielseitigste Instrument zur kurz- und auch mittelfristigen Flexibilisierung der individuellen Arbeitszeit sind die Arbeitszeitkonten, so Bispincks Analyse. Abweichungen von der vereinbarten individuellen Arbeitszeit werden auf den Konten festgehalten, wobei die Flexibilitätsspielräume je nach konkreter Ausgestaltung aus Sicht des Betriebes aber auch der Beschäftigten erheblich sein könnten. Die tariflichen Regelungen zu Arbeitszeitkonten haben sich in den vergangenen 15 Jahren erheblich ausgeweitet, so Bispinck. Regelungsgegenstände sind die konkreten Inhalte, die auf Konten gebucht werden dürfen (u.a. Arbeitszeitabweichungen, arbeitszeitbezogene Zulagen und Zuschläge), Obergrenzen und Regelungen zum Abbau des Guthabens. Neben Kurzzeitkonten gibt es in einigen Branchen auch Regelungen zu Langzeitkonten. Beispiele:
Die Nacht- und Schichtarbeit erweitert in vielen Wirtschaftszweigen das betriebliche Arbeitszeitrepertoire und ist ebenfalls Gegenstand tariflicher Regelungen. Diese betreffen beispielsweise die maximale Schichtdauer, den Verteilzeitraum für die regelmäßige Arbeitszeit, die Freischichtregelungen u.a.m.
Fazit: Bereits im Jahr 2000 formulierte der damalige Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt: „Wir sind heute bei der Arbeitszeit so flexibel, dass jede Behauptung, die Tarifverträge behinderten passgenaue betriebliche Lösungen, entweder bösartig ist oder in Unkenntnis der Tarifverträge erfolgt.“ Diese Flexibilität sei in den vergangenen Jahren durch die weitere Verbreitung von Arbeitszeitkonten oder Vereinbarungen zum mobilen Arbeiten noch gestiegen, betont WSI-Forscher Bispinck.
Einen weiteren Überblick über die tarifliche Arbeitszeitflexibilität in wichtigen Branchen bietet die Tabelle im Anhang der pdf-Version.