22.04.2024 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Das Tarifvertragsgesetz, das in vielen Punkten an das Tarifvertragsrecht der Weimarer Republik anknüpfte und nach Gründung der Bundesrepublik fortgalt, umfasste ganze 11 Paragrafen und blieb bis heute in seinen Grundzügen unverändert.
„Das Tarifvertragsgesetz ist ein Erfolgsmodell“ sagt Dr. Reinhard Bispinck, der über viele Jahre das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung geleitet hat. „Gemeinsam mit der im Mai 1949 durch Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz verankerten Koalitionsfreiheit bildet es seit 75 Jahren den stabilen rechtlichen Rahmen für die sehr wechselvolle Tarifpolitik.“
Das Tarifvertragssystem selbst befindet sich aber in einer anhaltenden Krise: Die Tarifbindung der Unternehmen geht seit mehr als zwei Jahrzehnten zurück. Aktuell arbeitet nur noch etwa jede*r zweite Beschäftigte in einem Unternehmen mit Tarifvertrag. Damit zählt Deutschland zur Gruppe der europäischen Länder, für die mittlerweile auch die EU-Kommission Aktionspläne zur Stärkung des Tarifsystems fordert. Hier seien, so Bispinck, die Tarifvertragsparteien selbst gefordert, aber es bestehe auch ein großer Handlungsbedarf der Politik „Hierzu gehören sowohl die konsequente Koppelung öffentlicher Aufträge und Fördergelder an die Einhaltung von Tarifstandards als auch die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung“, so Bispinck.
Bispinck hat zusammen mit dem WSI-Tarifarchiv eine Analyse über die wichtigsten Stationen der Tarifpolitik von 1949 bis heute erarbeitet, die auch die Herausforderungen analysiert, vor denen das Tarifsystem aktuell steht.
In den 1950er Jahren des „Wirtschaftswunders“ gelang den Gewerkschaften eine deutliche Anhebung der Tarifeinkommen. Die Streikintensität erreichte dabei ein Rekordniveau. Dabei ging es auch um sozialpolitische Themen, wie der berühmte Streik um die Lohnfortzahlung 1956/57 zeigt. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts war die Verkürzung der Wochenarbeitszeit und die 5-Tage-Woche („Samstags gehört Vati mir“) ein weiteres Ziel.
In den 1960er und 1970er Jahren änderten sich die Rahmenbedingungen der Tarifpolitik. Die „Konzertierte Aktion“ der Bundesregierung zielte auf eine gesamtwirtschaftliche Einbindung der Lohnpolitik. Niedrige Tarifabschlüsse führten zu wachsender Unzufriedenheit der Beschäftigten und spontanen Streiks. Die Gewerkschaften verfolgten daher eine sehr aktive Lohnpolitik. So setzte die ÖTV 1974 per Arbeitskampf eine Tarifanhebung von 11 Prozent, mindestens 170 DM, durch. Neben der Lohnpolitik spielte auch die „qualitative“ Tarifpolitik eine Rolle. Der von der IG Metall 1973 durchgesetzte Lohnrahmentarifvertrag II mit Mindesttaktzeiten und Erholpausen gilt als Musterbeispiel für eine auf Humanisierung der Arbeit zielende Tarifpolitik.
In den 1980er Jahren stand die Arbeitszeitpolitik im Zentrum. 1984 war das Jahr der langen Streiks um den Einstieg in die 35-Stunden-Woche. Mit weiteren Tarifabkommen 1987 und 1990 gelang in der Metallindustrie und der Druckindustrie die schrittweise Verkürzung auf 35 Stunden bis zum Jahr 1995. Andere Branchen blieben auf halbem Wege stecken.
In den 1990er Jahren prägten die Wiedervereinigung und der anschließende Transformationsprozess in Ostdeutschland die Tarifpolitik. Die scharfe Rezession 1992/93 und die zunehmende Internationalisierung der Wirtschaft und Globalisierung der Konkurrenz führten zu Druck auf die Tarifverträge mit der Folge eines schleichenden Umbaus des Tarifsystems durch Differenzierung und Dezentralisierung. Die Erosion des Tarifvertragssystem (rückläufige Tarifbindung, tarifwidriges Verhalten) trat deutlich zutage.
In den 2000er Jahren hofften konservative Kritiker, ihre jahrelange Kampagne gegen angeblich verkrustete und überkommene Strukturen des „Tarifkartells“ zum Erfolg zu führen. Gesetzliche Eingriffe konnten nur mit Mühe abgewehrt werden. Auf tarifpolitischer Ebene wurden „Öffnungsklauseln“ ein zunehmend genutztes Instrument für eine kontrollierte Dezentralisierung. Das „Pforzheimer Abkommen“ in der Metallindustrie von 2004 ist ein Markstein der Entwicklung.
In den 2010er Jahren stand tarifpolitisch zunächst die Bewältigung der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise im Vordergrund. Danach gelangen über Jahre deutliche reale Tariflohnsteigerungen. Im Dienstleistungsbereich (Sozial- und Erziehungsdienst, Gesundheitswesen) setzten die Gewerkschaften mit beruflicher Aufwertung und Entlastungstarifverträgen neue tarifpolitische Akzente. Mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz von 2014 wurden die Schaffung von tariflichen Branchenmindestlöhnen und die Allgemeinverbindlicherklärung erleichtert. 2015 wurde erstmals in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, der in den Folgejahren auch die Tarifpolitik gerade in den Niedriglohnbranchen stabilisierte.
Die Folgen der Corona-Pandemie, die rasch steigende Inflation, der wirtschaftliche Einbruch infolge des Ukrainekrieges und die anlaufende Transformation der Wirtschaft stellen die Tarifpolitik seit Beginn der 2020er Jahre vor große Herausforderungen. Angesichts der historisch einmaligen Reallohneinbußen stellten die Gewerkschaften deutlich höhere Lohnforderungen. Das Tarifklima wurde rauer, die Zahl der Arbeitskämpfe nimmt aktuell wieder zu. Schon fordern Wirtschaftsverbände sowie Vertreter von Union und FDP eine Einschränkung des Streikrechts.
Reinhard Bispinck lehnt das ab, auch mit Verweis auf die jahrzehntelange Erfahrung: „Das schlanke, auf Kernbestimmungen konzentrierte Tarifvertragsgesetz hat sich in den vergangenen 75 Jahren bewährt, ebenso der Verzicht auf eine gesetzliche Regulierung des Streikrechts und des Schlichtungswesens.“ Die Tarifvertragsparteien hätten es verstanden, die Konflikte um Arbeits- und Einkommensbedingungen autonom zu regeln.
Reinhard Bispinck und das WSI-Tarifarchiv:
75 Jahre Tarifvertragsgesetz. Stationen der Tarifpolitik von 1949 bis 2024, Analysen zur Tarifpolitik Nr. 102, April 2024.
Bild: rawpixel (Pixabay, Pixabay License)
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