29.03.2019 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.
2017 verzeichnete das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung 238.000 Ausfalltage. Sehr viel höher fiel auch die Streikbeteiligung aus. Sie stieg von 131.000 im Jahr 2017 auf knapp 1,2 Millionen Streikteilnehmerinnen und -teilnehmer 2018. Das zeigt die neue Jahresbilanz zur Arbeitskampfentwicklung, die das WSI heute vorlegt.
„Ausschlaggebend für die deutlichen Anstiege bei Streikbeteiligung und Ausfalltagen waren die umfangreichen Streikaktionen während der Metall-Tarifrunde im vergangenen Jahr. Allein auf diesen Arbeitskampf entfielen rund 60 Prozent aller Ausfalltage sowie mehr als drei Viertel aller Streikbeteiligten des Jahres 2018." stellt der WSI-Arbeitskampfexperte Dr. Heiner Dribbusch fest. Größere Warnstreiks begleiteten nach Dribbuschs Auswertung 2018 außerdem die Tarifrunde für die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst bei Bund und Kommunen. Allerdings war 2017 im Vergleich der vergangenen Jahre auch ein Jahr mit wenigen Arbeitskämpfen. Bezogen auf die Zahl der Streikenden lag 2018 auf dem Niveau der Jahre 2015 und 2016, die Zahl der ausgefallenen Arbeitstage war etwa halb so hoch wie 2015.
Besondere Aufmerksamkeit erhielten 2018 neben den großen Tarifrunden mit ausgeprägten Warnstreikwellen der Streik der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) im Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn, ein wochenlanger Arbeitskampf bei den Uni-Kliniken in Düsseldorf, die Streikpremiere bei Ryan-Air sowie der lang andauernde Kampf der Beschäftigten bei der Neuen Halberg Guss in Sachsen um ihre Arbeitsplätze. Nicht alltäglich, so der WSI-Arbeitskampfexperte, „war auch der von wiederholten Arbeitsniederlegungen begleitete Streik der wissenschaftlichen Hilfskräfte an den Hochschulen in Berlin, die unterstützt von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie ver.di, nach eineinhalb Jahren Verhandlungen und vierzig Streiktagen einen neuen Tarifvertrag erstritten“. Der Arbeitskampf der bei ver.di organisierten Beschäftigten für einen Tarifvertrag bei Amazon blieb weiterhin ohne Ergebnis. „Der längste Arbeitskampf Deutschlands geht 2019 somit in sein nunmehr sechstes Jahr“, so Dribbusch
In der internationalen Streikstatistik, bei der die arbeitskampfbedingten Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte betrachtet werden, liegt Deutschland nach wie vor im unteren Mittelfeld (siehe Grafik 2 in der pdf-Version). Nach Schätzung des WSI fielen hierzulande zwischen 2008 und 2017, dem letzten Jahr, für das international vergleichbare Daten vorliegen, im Jahresdurchschnitt pro 1.000 Beschäftigte rechnerisch 16 Arbeitstage aus. In Dänemark waren es im gleichen Zeitraum 116 und in Frankreichs Privatwirtschaft 118 Ausfalltage. Auch in Belgien, Kanada, Spanien und Norwegen fallen deutlich mehr Arbeitstage durch Arbeitskämpfe aus. Ein merklich niedrigeres Streikvolumen als in Deutschland findet sich in Polen, Schweden, Österreich und der Schweiz. In Italien und Griechenland wird seit längerem keine Streikstatistik mehr geführt.
Beim internationalen Vergleich ist laut Dribbusch jedoch zu beachten, dass die Arbeitskampfstatistiken auf teilweise sehr unterschiedlichen Erfassungsmethoden basieren. Die Zahlen für Frankreich beziehen sich allein auf die Privatwirtschaft (einschließlich der Staatsunternehmen), in Spanien sind die großen Generalstreiks der vergangenen Jahre nicht enthalten. In den USA werden Streiks erst ab 1.000 Beteiligten pro Tag einbezogen, während in Dänemark auch die kleinste Arbeitsniederlegung gezählt wird. In Dänemark und Kanada ist das Arbeitskampfvolumen zudem stark durch Aussperrungen beeinflusst.
Insgesamt zählte das WSI im abgelaufenen Jahr 216 unterschiedliche von Streiks begleitete Auseinandersetzungen. Die große Mehrzahl davon waren wie in den Jahren zuvor Arbeitskämpfe um Haus- und Firmentarifverträge. Zum ersten Mal seit 2008 fand sich die Mehrheit aller Auseinandersetzungen nicht im Dienstleistungsbereich, sondern im produzierenden Gewerbe (53 Prozent). Die mit Abstand meisten dieser Arbeitskämpfe fanden im Organisationsbereich der IG Metall statt, gefolgt von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) mit Schwerpunkten in der Getränke- und Nahrungsmittelindustrie. Im Dienstleistungsbereich streuten die Auseinandersetzungen stärker. Relativ viele Arbeitskämpfe gab es wie in den Vorjahren im Gesundheitswesen sowie im öffentlichen und privaten Personentransport (einschließlich der Luftfahrt). In Bezug auf die Anzahl der Ausfalltage lagen im Dienstleistungsbereich der öffentliche Dienst sowie der Handel vorn, in punkto Streikbeteiligung der öffentliche Dienst sowie die Energieversorgung.
„Das Arbeitskampfjahr 2018 ist nicht nur von außergewöhnlichen Auseinandersetzungen geprägt, sondern auch mit tarifpolitischen Erfolgen der Gewerkschaften verbunden," stellt Arbeitskampfexperte Dribbusch fest.
Neben zahlreichen Forderungen nach höheren Entgelten, stand vor allem in vielen der Haustarifauseinandersetzungen häufig die Frage der Tarifbindung im Mittelpunkt. Die größte Aufmerksamkeit erzielte im Jahr 2018 aber die Forderung, Beschäftigten eine stärker selbstbestimmte Ausgestaltung der Arbeitszeit zu ermöglichen und sich statt einer Entgelterhöhung für mehr freie Zeit zu entscheiden. Hier hatte die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) bereits 2016 bei der Deutschen Bahn tarifpolitisches Neuland betreten. Im Ergebnis des Arbeitskampfes in der Metallindustrie erreichte nun die IG Metall, dass einerseits Beschäftigten die Möglichkeit eröffnet wird, zeitlich befristet in Teilzeit zu wechseln und danach in Vollzeit zurückkehren zu können. Zum anderen wurde für Schichtarbeiterinnen und Schichtarbeiter sowie Beschäftigte mit Kindern oder zu pflegenden Angehörigen ein neues Wahlmodell eingeführt, bei dem zwischen einem tariflichen Zusatzentgelt oder acht freien Tagen gewählt werden kann. Besonders letzteres stieß, das zeigen erste Auswertungen, auf sehr große Resonanz. Im Dezember 2018 streikte dann die EVG erfolgreich bei der DB dafür, das bei den Beschäftigten populäre Optionsmodell fortzuführen, bei dem zwischen Entgeltsteigerungen und freier Zeit gewählt werden kann. Die Entlastung der Beschäftigten in den Krankenhäusern stand auch 2018 im Mittelpunkt einiger erfolgreicher Arbeitskämpfe, so bei dem erwähnten Streik am Universitäts-Klinikum Düsseldorf.
Das Jahr 2019 begann mit mehreren Streiks des Personals in der Personen- und Gepäckkontrolle an den deutschen Flughäfen. Für diese Beschäftigten fanden erstmals bundesweite Tarifverhandlungen statt, zeigt die WSI-Arbeitskampfanalyse. Zuvor hatte die Arbeitgeberseite die Flughafensicherheit aus den Arbeitgeberverbänden der Wachindustrie ausgegliedert und regionale Verhandlungen wie in der Vergangenheit verhindert. Damit wurde allerdings nun der Konflikt auf alle wichtigen Flughäfen ausgedehnt. Auch bei den Bodenverkehrsdiensten (Gepäcktransport, Reinigung etc.) gab es erste Warnstreiks. Vor dem Tarifabschluss in der Textilindustrie am 13. Februar 2019 waren mehrere tausend Beschäftigte den Aufrufen der IG Metall zu Warnstreiks gefolgt. Zahlreiche Warnstreiks begleiteten auch die Tarifrunde 2019 im öffentlichen Dienst der Länder, in der am 17. Februar ein Ergebnis erzielt wurde. „Für das Jahr 2019 ist jedoch trotz dieser Arbeitsniederlegungen und der Ungewissheit über den Verlauf der kommenden Tarifrunde im Einzelhandel aller Wahrscheinlichkeit nach im Vergleich zu 2018 wieder mit einem deutlichen Rückgang des bundesweiten Streikvolumens zu rechnen," sagt WSI-Arbeitskampfexperte Dribbusch.
Die Arbeitskampfbilanz des WSI ist eine Schätzung auf Basis von Gewerkschaftsangaben, Pressemeldungen und eigenen Recherchen. Warnstreiks, insbesondere wenn sie lokal begrenzt sind, werden nicht von allen Gewerkschaften erfasst. Auch Streiks außerhalb des Tarifgeschehens, wie z. B. betriebliche Proteststreiks, werden nur in Ausnahmefällen bekannt. Die Zahl der arbeitskampfbedingten Ausfalltage (bzw. Streiktage) ist ein rechnerischer Wert, in den neben den von Gewerkschaften gemeldeten Personen-Streiktagen (d. h. der Summe der Kalendertage, an denen individuelle Mitglieder Streikgeld empfingen) auch der vom WSI geschätzte Arbeitsausfall bei Warnstreiks ohne Streikgeldzahlung einbezogen wird. Analog zur amtlichen Statistik werden bei der Streikbeteiligung Beschäftigte, die an zeitlich getrennten Streiks oder Warnstreiks innerhalb eines Arbeitskampfes teilnehmen, teilweise mehrfach gezählt. Die erfasste Streikbeteiligung ist daher teilweise erheblich höher als die Anzahl der individuellen Arbeitnehmer, die ein- oder mehrmals gestreikt haben.
Ein Beispiel für die Schwierigkeiten, die Zahl der streikenden Beschäftigten in langen Auseinandersetzungen exakt zu erfassen ist der Arbeitskampf in der Metall- und Elektroindustrie. Während die IG Metall bundesweit insgesamt rund 1,5 Millionen Streikende zählte, nennt Gesamtmetall die Zahl von knapp 800.000 Streikenden. Die Differenz erklärt sich vermutlich zum Großteil daraus, dass in den IG Metall-Angaben Beschäftigte, die mehrfach streikten auch mehrfach gezählt werden, während es sich bei den Zahlen von Gesamtmetall wahrscheinlich um an den Streiks beteiligte Beschäftigte handelt, die auch wenn sie mehrmals streikten nur einmal gezählt wurden. Die Angabe der IG Metall zählte fast eine Million Streikbeteiligte in den verschiedenen Warnstreikwellen, sowie noch einmal 500.000 Beteiligte bei den anschließenden 24-Stunden-Streiks. Da jedoch nur solche Betriebe in den 24-Stunden-Streiks einbezogen wurden, die zuvor mindestens einmal an Warnstreiks teilgenommen hatten, ist klar, dass hier Mehrfachzählungen vorliegen.