05.02.2018 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.
Gesamtwirtschaftlich sind Verstöße gegen den Mindestlohn aber weiterhin ein Problem: 2016 bekamen rund 2,7 Millionen Beschäftigte in Deutschland weniger als den Mindestlohn, obwohl er ihnen zustand. Damit erhielten 9,8 Prozent aller Arbeitnehmer, die Anspruch auf den Mindestlohn hatten, weniger als die damals vorgeschriebenen 8,50 Euro pro Stunde. Legale Ausnahmen vom Mindestlohn sind dabei bereits herausgerechnet. Zu diesen Ergebnissen kommt eine neue Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP).
Nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist die Armut unter Beschäftigten im Niedriglohnbereich (unter 10 Euro Stundenlohn) zurückgegangen, zeigen die Berechnungen des WSI-Arbeitsmarktexperten Dr. Toralf Pusch: 2014 hatten noch 20 Prozent von ihnen ein so geringes Einkommen, dass ein – realisierter oder nicht realisierter – Anspruch auf aufstockende Hartz-IV-Leistungen bestand. Bis 2016 sank die Aufstocker-Quote auf 17 Prozent, weil extrem niedrige Stundenlöhne erhöht wurden. Die Erwerbsarmut könnte aber noch deutlich stärker reduziert werden, wenn sich alle Arbeitgeber auch an das Mindestlohngesetz halten würden, betont der Forscher: „Die insgesamt sehr positive Bilanz des Mindestlohns wird getrübt, weil nach den neuesten verfügbaren Daten auch mehr als ein Jahr nach der Einführung noch zahlreiche Arbeitgeber gegen das Mindestlohngesetz verstoßen haben. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich das Problem seitdem erledigt hat.“ Denn nach wie vor sei die Kontrolldichte relativ gering, die zuständige Einheit des Zolls unterbesetzt.
Die SOEP-Auswertung zeigt auch, welche Unternehmens-internen Faktoren verhindern können, dass Beschäftigte um den Mindestlohn geprellt werden. So können sich Betriebsräte und Tarifbindung positiv auswirken, macht die Analyse deutlich. In Betrieben mit Arbeitnehmervertretung und Tarifvertrag lag die Quote der Mindestlohn-Umgehungen 2016 bei nur 3,2 Prozent. Fehlte beides, erhielten hingegen 18,6 Prozent der Beschäftigten nicht den Mindestlohn, also mehr als fünfmal so viele. Eine Stärkung von Mitbestimmung und Tarifbindung kann zu faireren Arbeitsbedingungen beitragen, betont Pusch.
Für seine Studie wertete der Forscher die neuesten vorliegenden Daten aus dem SOEP aus, der größten Panelbefragung zu Arbeitszeiten und Einkommen in Deutschland. Dass der Mindestlohn trotz Umgehungen die Bezahlung vieler Geringverdiener spürbar verbessert hat, zeigt sich nach Puschs Analyse unter anderem an kräftigen Lohnsteigerungen für ungelernte Arbeitskräfte und in Branchen mit vielen Niedrigverdienern – nach Jahren der Stagnation. So legten die Löhne im Gastgewerbe nach Einführung der Lohnuntergrenze um 9,9 im Einzelhandel um 11,4 und in der Fleischverarbeitung um 11,6 Prozent zu.
Dass die Hartz-IV-Bedürftigkeit unter Geringverdienern, gemessen an der Aufstocker-Quote inklusive Dunkelziffer, bis 2016 spürbar um knapp drei Prozentpunkte zurückging, ist aus Sicht des Forschers besonders bemerkenswert, weil der Mindestlohn bislang unterhalb der Niedriglohnschwelle von gut 10 Euro liegt. „Durch eine bessere Kontrolle und ein höheres Niveau des Mindestlohns könnte eine erhebliche Verringerung der Aufstocker-Quote erreicht werden“, erwartet der WSI-Experte. Beispielsweise lag sie unter Arbeitnehmern mit einem Brutto-Stundenverdienst von 9,50 bis 10,50 Euro 2016 lediglich bei gemittelt rund 5 Prozent inklusive derer, die ihren Anspruch nicht geltend machten.
Verstöße gegen das Mindestlohngesetz kommen nach der WSI-Untersuchung in Branchen mit vielen Kleinbetrieben und Minijobs besonders häufig vor. So bekamen 2016 rund 43 Prozent der Beschäftigten in privaten Haushalten weniger als den Mindestlohn. Im Hotel- und Gaststättengewerbe betrug die Umgehungsquote 38 Prozent, im Einzelhandel etwa 20 Prozent. Deutlich unter dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt lag die Quote der Verstöße unter anderem in der Energieversorgung, der Entsorgungswirtschaft, in verschiedenen Industriebranchen, bei Banken und in der öffentlichen Verwaltung (siehe auch die ausführliche Tabelle in der WSI-Studie; Link unten). Auch dieser Branchenvergleich deute auf die Bedeutung von Tarifbindung und Betriebsräten bei der Vorbeugung von Verstößen hin, so Pusch.
Dass viele Beschäftigte weniger als den Mindestlohn erhalten, hatte im vergangenen Jahr auch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung konstatiert. Das DIW rechnete darin mit 1,8 bis 2,6 Millionen Betroffenen, je nach Abgrenzung der Arbeitszeiten. Die WSI-Zahlen liegen höher, weil Arbeitsmarktexperte Pusch bei seinen Berechnungen Überstundenzuschläge einbezogen hat und die Zahl der Beschäftigten mit Mindestlohnanspruch in der Pflege und am Bau genauer bestimmen konnte. Dabei wählte der WSI-Experte für die Berechnung der Arbeitszeit methodisch eine mittlere Variante, in der nur bezahlte Überstunden aus dem Vormonat berücksichtigt wurden. Der Ansatz sei somit recht konservativ, die nun ermittelte Zahl von 2,7 Millionen Beschäftigten zeige „eher die untere Grenze der Mindestlohnumgehungen an“, erklärt der Wissenschaftler.
Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls hat bei ihren Prüfungen im ersten Halbjahr 2017 in neun Prozent der untersuchten Fälle Verstöße gegen das Mindestlohngesetz festgestellt, die anschließend zu Ermittlungsverfahren führten. Zugleich stieg die Zahl der Prüfeinsätze erstmals wieder an, nachdem sie 2015 und 2016 deutlich gesunken war. „Trotz dieser erfreulichen Entwicklung hat die Zahl der Kontrollen durch die FKS immer noch nicht das Niveau vor der Mindestlohn-Einführung erreicht“, schreibt Pusch.
Da effektive Kontrollen zentral für die Umsetzung des Mindestlohngesetzes seien, empfiehlt der Wissenschaftler, die FKS schnellstmöglich auf 10.000 Planstellen aufzustocken. Aktuell sind es lediglich rund 7.200 und davon sind knapp 800 nicht besetzt. Zudem sei es wichtig, von Arbeitgebern aussagefähige Dokumentationen der Arbeitszeiten zu verlangen. Denn undokumentierte und unbezahlte Mehrarbeit gilt als der meistgenutzte Weg, um Beschäftigte in der Praxis um den Mindestlohn zu bringen. Ohnehin müssten Unternehmen nach dem Arbeitszeitgesetz die Einsatzdauer ihrer Beschäftigten dokumentieren, schreibt Pusch. Klagen über zusätzliche Bürokratie führten daher in die Irre. Gelegentlich diskutierte Vorschläge für neue Ausnahmen vom Mindestlohn, etwa für Flüchtlinge, lehnt der Forscher ab. „Mit jeder weiteren Ausnahme sinkt die Akzeptanz bei Arbeitnehmern und Unternehmen, deren Wettbewerbsbedingungen schon heute durch die weit verbreitete Praxis der Mindestlohnumgehungen verzerrt werden.“
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